Das Neutrino ist von allen Elementarteilchen das rätselhafteste. Wolfgang Pauli hatte die Existenz dieses elektrisch neutralen und nur schwach wechselwirkenden „Geisterteilchens“ 1930 postuliert, um die Energie- und Drehimpulserhaltung beim Betazerfall nicht aufgeben zu müssen. Der zunächst für unmöglich gehaltene direkte Nachweis des Neutrinos gelang 1956 Clyde Cowan und Frederick Reines.
Später fand man, dass es neben dem Elektron-Neutrino (und seinem Antiteilchen) noch zwei weitere Neutrinoarten gibt: das Myon- und das Tau-Neutrino. Überraschenderweise können sich Neutrinos von einer Art in eine andere umwandeln. Dies ist nur möglich, wenn die drei Neutrinoarten unterschiedliche Massen haben. Da Neutrinos im Universum sehr häufig vorkommen, haben die Werte der Neutrinomassen einen großen Einfluss auf die kosmische Entwicklung. Eine präzise obere Schranke für die Masse des Elektron-Neutrinos bestimmten Dr. Jochen Bonn und Dr. Christian Weinheimer aus der Arbeitsgruppe von Ernst Otten an der Universität Mainz. Für ihre Arbeit wurden sie mit dem Helmholtz-Preis 2001 ausgezeichnet. Der Preis wurde erstmals gemeinsam vom Helmholtz-Fonds und vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft vergeben.
Zur Bestimmung einer oberen Schranke für die Masse des Elektron-Neutrinos analysierten die beiden Physiker und ihre Kollegen in Mainz den Betazerfall von Tritium. Zerfällt ein Tritiumkern, so entstehen ein Helium-3-Kern, ein Elektron und ein Elektron-Antineutrino. Da der Tochterkern eine viel größere Masse besitzt als das Elektron und das Neutrino, nimmt er zwar einen merklichen Impuls aber nahezu keine Energie auf.
Die beim Zerfall freiwerdende Energie verteilt sich in zufälliger Weise auf das Elektron und das Neutrino. Am Endpunkt des Energiespektrums des Elektrons bei 18,6 keV, wo dessen Energie maximal ist, macht sich der Einfluss der Neutrinomasse mν in subtiler Weise bemerkbar. Zum einen ist der Endpunkt des Spektrums zu niedrigen Energien hin verschoben um mνc2. Zum anderen ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Elektron eine bestimmte Energie hat, um einen Wert proportional zu mν2 verringert. Nimmt man etwa mν = 1 eV/c2 an, so hat nur ein extrem kleiner Bruchteil von 2 ∙ 10–13 der entstandenen Elektronen eine Energie, die so nahe am Endpunkt des Energiespektrums liegt, dass man den Einfluss von mν auf das Spektrum erkennen kann.
Die Forscher haben das Energiespektrum solcher Elektronen vermessen, die möglichst nahe an der Maximalenergie lagen. Dazu haben sie mit zwei supraleitenden Spulen ein Magnetfeld erzeugt, dessen Feldlinien an den Spulen zusammengeschnürt und im Raum zwischen ihnen aufgebauscht waren. In der einen Spule befand sich die Tritiumprobe in Form eines gefrorenen Films, in der anderen ein Elektronendetektor. Die beim Zerfall des Tritiums entstandenen Elektronen bewegten sich entlang der Feldlinien in den aufgebauschten Bereich, wo sie auf eine von Ringelektroden erzeugte elektrische Potentialschwelle variabler Höhe trafen. Nur solche Elektronen konnten diese Schwelle überwinden und zum Detektor gelangen, die eine hinreichend große Energie hatten. Auf diese Weise fanden die Forscher eine untere Schranke für die Maximalenergie der Elektronen, aus der sie eine obere Schranke für die Neutrinomasse herleiteten: mν < 2,8 eV/c2. Inzwischen konnten sowohl die Mainzer Forscher als auch Wissenschaftler in Troitsk (Russland) diesen Wert auf 2,05 eV/c2 verbessern. Deutliche Fortschritte erhofft man sich vom Karlsruhe Tritium Neutrino (KATRIN) Experiment am Karlsruhe Institut für Technologie (KIT), das derzeit von einer internationalen Kollaboration aufgebaut wird, unter Beteiligung von Christian Weinheimer und – bis zu seinem Tod – Jochen Bonn. Es soll die obere Schranke für mν auf 0,2 eV/c2 absenken oder die Neutrinomasse finden.